Wertschöpfung der ambulanten Suchtberatung in Bayern
– eine neue SROI-Studie

Im Auftrag des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit haben wir die Wertschöpfung der ambulanten Suchtberatung in Bayern analysiert. Dabei nutzten wir die Methode des Social Return on Investment (SROI) und stellten uns den Fragen:

  • Was wäre, wenn es die ambulante Suchtberatung in Bayern nicht gäbe (SROI 3)? Welche Folgen hätte das für die Personen mit einer substanzbezogenen Suchtproblematik und ihr Umfeld? Mit welchen Folgekosten für die Gesellschaft wäre zu rechnen?
  • Wie wirkt sich die ambulante Suchtberatung auf die Lebensqualität und -situation der Personen mit einer substanzbezogenen Suchtproblematik (SROI 5) aus?

SROI 3 – Vermiedene Eskalationen und Alternativkostenberechnung

Was wäre, wenn es die ambulante Suchtberatung in Bayern nicht gäbe? Diese Frage beantwortet der SROI 3 mittels einer Analyse von vermiedenen Eskalationen und einer Alternativkostenbetrachtung.

Wahrscheinliche Eskalationen ohne ambulante Suchtberatung

Berater:innen ambulanter Suchberatungsstellen in Bayern schätzten ein, welche Folgen (Eskalationen) für die Personen mit Suchtproblematik bei Beratungsbeginn gedroht hätten. Diese Ermittlung erfolgte anhand eines standardisierten Instruments für 185 Klient:innen aus dem Jahr 2019. Die Berater:innen schätzten ein, welche Eskalationen im Leben der Beratungsklient:innen in den folgenden zwölf Monaten ohne die Suchtberatung gedroht hätten.

Beispielsweise wären die Personen mit Beziehungsproblemen, Jobverlust, Erkrankungen oder auch Strafvollzug in den folgenden zwölf Monaten konfrontiert gewesen, gäbe es die ambulante Suchtberatung nicht. Somit liefert die retrospektive Fallanalyse Evidenz dafür, dass eine Milderung der Suchtproblematik vielfach mit einer Verbesserung

  • der sozialen Beziehungen,
  • des psychischen Wohlbefindens,
  • des physischen Wohlbefindens und
  • der materiellen Lebenssituation

der Klient:innen einhergeht.

Rang EskalationAbsolute  HäufigkeitHäufigkeit der Fälle in % (n=185)
1​Beziehungsstörungen​101​55 %​
2​Konflikte im Wohnumfeld​87​47 %​
3​Psychische Störung/Erkrankung​77​42 %​
4​Verlust des Arbeitsplatzes​68​37 %​
5​Konflikte am Arbeitsplatz​63​34 %​
6​Langzeiterkrankung​60​32 %​
7​Kriminalität und Strafvollzug​57​31 %​
8​Einweisung in Maßnahmen der stationären Suchtbehandlung​56​30 %​
9​Trennung/Scheidung​55​30 %​
10​Kontaktverlust zu Kind/ern​54​29 %​
Tabelle: Zehn meist genannte Eskalationen.

Bei fast allen Fällen haben zu Beginn der Beratung in einer Suchtberatungsstelle negative Folgen der Suchtproblematik gedroht (bei 182 von 185 Fällen). Die nebenstehende Tabelle zeigt die zehn meist genannten Eskalationen, die ohne die Unterstützung der Suchtberatung sehr wahrscheinlich eingetreten wären.

Anders formuliert – die Suchtberatungsstellen konnten durch ihre Arbeit mit den Klient:innen drohende Eskalationen vermeiden. Beispielsweise:

  • Ohne die ambulante Suchtberatung sähen sich etwa die Hälfte der Fälle mit Beziehungsstörungen (n=101 bzw. 55 %) oder Konflikten im Wohnumfeld (n=87; 47 %) konfrontiert.
  • Das Auftreten oder Verschlimmern einer psychischen Erkrankung/Störung konnte bei 77 Personen (42%) verhindert werden.
  • Ein Verlust des Arbeitsplatzes konnte bei 68 von 185 Personen (37 %) abgewendet werden.

Die Studie veranschaulichte auch, dass sich in der Häufigkeit der Eskalationen durchaus suchtmittelspezifische Unterschiede erkennen lassen:

  • Existenzielle Folgen, wie z. B. Ansteckung mit Infektionskrankheit, Drogentod, Obdachlosigkeit oder Überschuldung, betreffen vorwiegend Personen mit Opioid-Problematik oder Mehrfachproblematik.
  • Bei Personen mit Alkohol- oder Cannabinoid-Problematik mildert die Suchtberatung häufiger Eskalationen mit weniger drastischem Ausmaß ab, v.a. hinsichtlich der sozialen und materiellen Lebensqualität.

Typische Kosten der Eskalationen

Um das Ziel des SROI 3 zu erreichen, die gesellschaftlichen Folgekosten ohne ambulante Suchtberatung für zwölf Monate abzuschätzen, wurden in unserem Simulationsmodell 17 der 34 konkreten Eskalationen mit sog. Standardkosten versehen. Diese wurden der amtlichen Statistik (z. B. bei Arbeitslosigkeit) entnommen, bei unterschiedlichen Institutionen direkt erfragt (z. B. für Entwöhnungsbehandlung) oder plausibel mit Hilfe von Teilszenarien und konservativen Annahmen konstruiert.

Aus der Verknüpfung der vermiedenen Eskalationen je Fall und den jeweiligen Standardkosten wurden die vermiedenen Fallkosten je Hauptsubstanzgruppe (Alkohol, Cannabinoide, Opioide, Mehrfachproblematik, sonstige Hauptsubstanzen) simuliert. Somit wurden für jede Gruppe die durchschnittlichen vermiedenen Kosten je Fall ermittelt. Im Durchschnitt über alle 185 Fälle tragen die ambulanten Suchtberatungsstellen je Klient:in zur Vermeidung gesellschaftlicher Kosten in Höhe von 22.691 € bei.

Da sich bereits bei der Häufigkeit der vermiedenen Eskalationen Unterschiede zwischen den Suchtmittelgruppen zeigte, ist es nicht verwunderlich, dass es auch bei den Durchschnittskosten Unterschiede gibt. Die große Gruppe der Klient:innen mit Alkoholproblematik (58 % aller 185 Fälle) mit ihrem vergleichsweise niedrigen Durchschnitt an simulierten vermiedenen Fallkosten von 19.142 € hat starken Einfluss auf den globalen Durchschnitt. Die Gruppen der illegalen Substanzen hingegen liegen mit den simulierten durchschnittlich vermiedenen Kosten jeweils oberhalb des globalen Mittelwerts (23.548 € – 32.256 €) und dies teils deutlich.

Flächenwirkung der ambulanten Suchtberatung

Diese Kosten wurden auf die Gesamtzahl aller Klient:innen hochgerechnet, die einer der Hauptsubstanz-Gruppe in Bayern zugerechnet werden. Das waren für 2019 21.308 Klient:innen bei 78 Beratungsstellen (von insg. 110 in Bayern). Dadurch kann die „Flächenwirkung“ der Arbeit der ambulanten Suchtberatung in Bayern ermittelt werden. Die Simulationsrechnung für 2019 zeigt: Die ambulante Suchtberatung in Bayern kann gesellschaftliche Folgekosten von substanzbezogenen Suchterkrankungen in Höhe von 474 Millionen Euro vermeiden.

Diese hohe monetäre Wertschöpfung der ambulanten Suchtberatung wird noch greifbarer, wenn die Fördermittel der bayerischen Bezirke für die ambulante Suchtberatung entgegengestellt werden. Die Bayerischen Bezirke finanzierten die angesprochenen 78 psychosozialen Beratungsstellen mit rund 26,6 Millionen Euro im Jahr 2019. Auch wenn ein 1:1 Abgleich der Förderungen und der eingesparten öffentlichen Kosten einige zusätzliche Faktoren auf beiden Seiten vernachlässigt, lässt sich dennoch schlussfolgern: Für jeden eingesetzten Euro der bayerischen Bezirke kann die ambulante Suchtberatung rund 17 Euro an Folgekosten einsparen.

SROI 5 – Lebensqualität, wahrgenommene Wirkung und Servicequalität

Im Fokus des SROI 5 stehen die Lebensqualität der Klient:innen, die wahrgenommene Wirkung der Suchtberatung sowie die Servicequalität der ambulanten Suchtberatung. Der speziell auf diese Fragestellungen hin ausgerichtete standardisierte Fragebogen greift bereits existierende Verfahren und Instrumentarien auf, z. B. eine Kurzversion des World Health Organization Quality of Life Questionnaire (WHOQOL-BREF). 565 Klient:innen von 45 ambulanten Suchberatungsstellen in Bayern nahmen an der Befragung teil.

Zusammenfassend nehmen die Klient:innen positive Effekte der ambulanten Suchtberatung wahr. Die Befragten bescheinigen der ambulanten Suchtberatung in Bayern in vielerlei Hinsicht ein gutes Zeugnis.

Lebensqualität

Die Analyse der Lebensqualität mittels der Kurzversion des World Health Organization Quality of Life Questionnaire (WHOQOL-BREF) ergab:

  • Die umweltbezogene Lebensqualität wurde am positivsten bewertet (erfasst, z. B. Sicherheitsempfinden im täglichen Leben/Umfeld).
  • Die im Vergleich geringste Lebensqualität lässt sich bei der psychischen (z. B. Belastung durch negative Gefühle, Ausmaß des Erlebens positiver Gefühle) und sozialen Domäne (erfasst Zufriedenheit mit sozialen Beziehungen) der Lebensqualität feststellen.
  • Soziodemographische und suchtrelevante Merkmale haben wenig Einfluss auf die Ausprägung der Lebensqualität in den verschiedenen Domänen.

Zwei statistisch signifikante Unterschiede fallen dabei ins Auge:

  • Klient:innen mit einer Alkoholproblematik haben eine höhere physische, psychische und umweltbezogene Lebensqualität als Personen mit einer Mehrfachproblematik.
  • Klient:innen, die aufgrund von Auflagen die Suchtberatung aufgesucht haben, haben eine höhere physische und psychische Lebensqualität als Klient:innen ohne Auflagen.

Wahrgenommene Wirkung

Nach persönlicher Einschätzung der Klient:innen hat die ambulante Suchtberatung einen positiven Einfluss auf ihre Suchtproblematik und ihre Lebenssituation. Die Zustimmungsraten zu den drei folgenden Aussagen liegen zwischen 60 % und 77 % (vgl. Abbildung).

  • Ein Großteil der Befragten gibt an, dass sich ihre Suchtproblematik wegen der ambulanten Suchtberatung nicht verschlimmert hat (Antwortenwerte 7 und 6: 77 %).
  • 70 % geben an, dass sie durch die Suchtberatung mit mehr Zuversicht in die Zukunft blicken.
  • Dass sich ihre Lebenssituation durch die Suchtberatung verbessert hat, geben immerhin 60 % der befragten Klient:innen an.
Abbildung: Einschätzung der wahrgenommenen Wirkung der ambulanten Suchtberatung.

Servicequalität

Darüber hinaus bescheinigen die Klient:innen den Suchtberatungsstellen eine sehr hohe Servicequalität. Besonders zufrieden sind die Klient:innen mit den Mitarbeitenden der ambulanten Suchtberatungsstellen.

  • Sie sind aus Sicht der befragten Klient:innen einfühlsam (94 % positive Zustimmung).
  • Sie begegnen den Klient:innen auf Augenhöhe (93 % positive Zustimmung).
  • Die Befragten geben auch an, dass sie den Mitarbeitenden vertrauen (92 % Zustimmung).

Aber auch hinsichtlich die Beratungsangebote erhalten ein gutes Zeugnis von den befragten Klient:innen. Es zeigen sich keine nennenswerten suchtmittelspezifischen Unterschiede in der wahrgenommenen Servicequalität.

Die explorativen Ergebnisse der SROI 5-Befragung geben Anlass zur Annahme, dass die ambulante Suchtberatung positive Wirkungen auf die Lebensqualität und Zufriedenheit der Klient:innen hat. Weitere Studien sind allerdings nötig, um diese ersten Tendenzen zu überprüfen.

Den Kurzbericht der Wertschöpfung der ambulanten Suchtberatung in Bayern können Sie hier abrufen.

Der ausführliche Bericht „Analyse der Wertschöpfung der ambulanten Suchtberatung in Bayern“ (2022) liefert weitere interessante Informationen zu:

  • Methodisches Design
  • Differenzierte Analyse und Ergebnisse der vermiedenen Eskalationen, auch nach Hauptsubstanzgruppen
  • Differenzierte Ergebnisse der Lebensqualität, Servicequalität und wahrgenommenen Wirkung
  • Fallbeispiele

Bei Fragen zur Studie können Sie gerne hier mit uns in Kontakt treten.